Wahlrecht
Das deutsche Wahlrecht hat so seine Besonderheiten, zum Beispiel die 5%-Hürde.
Diese “gute” Tradition wurde auch bei der Europawahl in Deutschland eingeführt, vom Bundesverfassungsgericht für diese Wahl für ungültig erklärt, um mit einer 3%-Hürde ersetzt zu werden, die dem Bundesverfassungsgericht wieder nicht gefallen hat.
Das Urteil ist leider noch nicht online verfügbar, so dass ich mich erst einmal an der Berichterstattung und der Pressemitteilung entlang hangeln muss.
Laut Tagesschau argumentiert das BVerfG, dass das Europaparlament nicht so handlungsfähig sein muss, wie beispielsweise der Bundestag, da die EU Kommission nicht so sehr auf das europäische Parlament angewiesen sind, wie die Bundesregierung auf den Bundestag. (kurz: Das europäische Parlament ist eigentlich unwichtig - tolles Statement)
In der Pressemitteilung finden sich einige wichtige Aussagen:
Aus diesem Grundsatz folgt, dass die Stimme eines jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muss. Bei der Verhältniswahl verlangt dieser Grundsatz darüber hinaus, dass jeder Wähler mit seiner Stimme auch den gleichen
Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden Vertretung haben muss, denn Ziel des Verhältniswahlsystems ist es, dass alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten
Verhältnis in dem zu wählenden Organ vertreten sind.
Der aus Art. 21 Abs.1 GG abzuleitende Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien verlangt,
dass jeder Partei grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden.
Zwischen Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien besteht ein enger Zusammenhang.
Im weiteren Verlauf der Begründung (soweit sie in der Pressemitteilung angegeben ist) wird darauf verwiesen, dass die Beurteilung durchaus anders ausfallen könnte, sofern sich das Verhältnis von Parlament und Kommission in der EU verändert.
Der letzte Satz im Zitat ist meines Erachtens eine falsche Annahme: Es besteht nicht zwangsläufig ein enger Zusammenhang zwischen Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien. Diese enge Verbindung besteht nur aufgrund unseres Wahlsystems, und die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Zusammenhang angenommen wird, hat mich schon bei der Bundestagswahl 2013 ziemlich erschüttert.
Es scheint drei Anforderungen an eine Wahl in Deutschland zu geben:
Erstens soll jeder Wähler das gleiche Stimmgewicht haben, was sich insbesondere in einer gleich gewichteten Auswirkung auf das Ergebnis zeigt, also hier die Zusammensetzung des europäischen Parlaments.
Zweitens soll jede Partei mit gleichen Chancen in die Wahl gehen können.
Drittens soll das Parlament am Ende arbeitsfähig sein können.
Diese dritte Anforderung muss üblicherweise für die Einrichtung einer wie-auch-immer gearteten Hürde herhalten, die sowohl das Stimmgewicht des Wählers, als auch die Chancen einiger Parteien reduziert.
Das Stimmgewicht des Wählers wird reduziert, da es nun nicht mehr nur vom Wähler abhängt (der sich entscheiden kann, an der Wahl teil zu nehmen oder nicht), sondern auch vom Verhalten der anderen Wähler. Teilen nicht genügend Wähler seine Ansicht, ist seine Stimme weniger wert: Die Stimme wird de-facto bei der Parlamentszusammensetzung wie eine ungültig abgegebene Stimme behandelt. Einzig auf die Parteienfinanzierung hat sie (im Fall des Bundestags) noch Einfluss.
Die Chancen der Parteien werden von der Hürde nicht direkt beeinflusst, da jede Partei daran auf gleiche Weise scheitern kann. Allerdings bewirkt ihre Existenz bereits eine Veränderung im Wahlverhalten: kleine Parteien werden überdurchschnittlich dadurch beeinträchtigt, dass ihre potentiellen Wähler ihre Stimme nicht “verloren” sehen wollen und daher “strategisch” wählen.
Nun hat die Idee der Hürde eine historische Begründung (und ist damit nicht völlig willkürlich), und so stellt sich die Frage, ob es nicht eine bessere Lösung für die Anforderung gibt, das Parlament handlungsfähig zu halten.
Im Moment beeinträchtigt die Hürde Wähler, Parteien, die daran scheitern und Parteien, die vor der Wahl aufgrund der Hürde als unsichere Kandidaten gelten und dadurch Stimmen einbüßen.
Zumindest bei der Beeinträchtigung von Wählern, sowie der Beeinträchtigung von Parteien durch strategische Wahl sehe ich eine Möglichkeit der Abhilfe:
Benötigt wird ein Wahlsystem, dass es dem Wähler ermöglicht, seinen Willen vollständiger auszudrücken, so dass er kleine Parteien wählen kann, ohne seine Stimme zu verlieren, falls diese nicht den Einzug ins Parlament schaffen.
Wenn ein Wähler seine Stimme als Rangfolge angeben kann, die so lange aufgerollt wird, bis seine Stimme in der Zusammensetzung des Parlaments Niederschlag findet, gäbe es keine Notwendigkeit der strategischen Wahl - jedenfalls nicht zur Umgehung der Hürde.
Konkret könnte ein Wähler in einem solchen Wahlsystem alternativ zum “Kreuzchen” eine Nummerierung vornehmen: Seine erste Wahl (gekennzeichnet durch “1”) ist gültig, sofern sie nach Auszählung die Hürde passiert. Schafft sie es nicht, wird die zweite Wahl (gekennzeichnet durch “2”) herangezogen, und so weiter.
Bei der Auszählung wird zuerst nur die “erste Wahl” gezählt. Von den Parteien unterhalb der Hürde scheiden die niedrigstplatzierten aus, deren Stimmen zusammen genommen nicht die Hürde passieren können. Deren Stimmen werden erneut ausgezählt, wobei die nächste noch gültige Wahl zum Zug kommt (in der Regel die zweite, es sei denn, diese wählt eine der bereits ausgeschiedenen Parteien). Das Verfahren wird wiederholt, bis alle Stimmen unterhalb der Hürde abgearbeitet wurden.
Im Lauf der Auszählung können Parteien noch die Hürde passieren, die es mit der ersten Wahl nicht geschafft hätten.
Das Verfahren ist ein modifiziertes Instant Runoff Voting (IRV). Modifiziert, da es die Stimmen nur bis zur Hürde aufrollt und daher für eine Verhältniswahl geeignet ist, während IRV für Personenwahlen gedacht ist. Durch die Hürde werden manche Schwächen, die sich durch strategisches Wählen ausnutzen ließen, vermieden.
Mit diesem Verfahren verliert ein Wähler erst dann die abgegebene Stimme, falls sämtliche abgegebenen Wahlen unterhalb der Hürde verbleiben.
Es vermeidet strategisches Wählen aufgrund der Existenz der Hürde.
Das Ziel der Hürde, die Handlungsfähigkeit des Parlaments sicher zu stellen, ist in diesem Verfahren gewährleistet: Alle Parteien sind entsprechend der Hürde vertreten.
Im Fall der Bundestagswahl 2013 hätte sich damit vermutlich vermeiden lassen, dass fast jede sechste gültig abgegebene Stimme (15.7%) keine Auswirkung auf die Zusammensetzung des Bundestags hatte, was einen traurigen Rekord darstellt. Wenigstens eine der beiden Parteien über 4% (FDP oder AfD) hätte vermutlich genügend Stimmen von den kleineren Parteien auf sich ziehen können, um die 5% doch noch zu schaffen - unter der Annahme, dass das Wahlverhalten nicht sowieso grundsätzlich anders wäre, zu Lasten der “sicheren” sogenannten Volksparteien.